
Sind Fahrzeiten von zwei Stunden für den Weg zur Berufsschule zumutbar?
Auszubildende müssen neben der Ausbildung im Betrieb auch die Berufsschule besuchen. Vorgesehen ist, dass der schulische Teil der Ausbildung an einer Berufsschule im Bundesland des Ausbildungsbetriebs stattfindet. Auch dann, wenn eine passende Berufsschule im Nachbarbundesland deutlich näher gelegen ist. Über Ausnahmen entscheidet das Kultusministerium. Doch dieses zeigt sich sogar in Extremfällen wenig flexibel. So findet das Ministerium selbst einfache Fahrtzeiten von fast zwei Stunden noch zumutbar. Die IHK Darmstadt fordert daher eine andere Gestattungspraxis, um die Ausbildung vor allem in ländlichen und in Grenzregionen attraktiv zu halten.
Pressemeldung vom 31. März 2025
Dr. Marcel Walter, Geschäftsbereichsleiter Aus- und Weiterbildung
Eine Auszubildende aus Lampertheim macht eine Ausbildung zur Fachangestellten für Bäderbetriebe am Schwimmbad in Bensheim. Die zuständige Berufsschule sitzt in Friedberg (Taunus), die einfache Fahrzeit mit dem öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) beträgt eine Stunde und 50 Minuten. Deutlich näher liegt die Mannheimer Berufsschule, die zu dem Ausbildungsberuf beschult. Das hessische Kultusministerium lehnte den gestellten Gestattungsantrag jedoch ab, mit der Begründung, dass 120 Minuten einfache Fahrtzeit bei Blockunterricht zumutbar seien.
Weiteres Beispiel: Ein Auszubildender zum Industriekaufmann ist bei einem Unternehmen in Wald-Michelbach beschäftigt, er selbst wohnt in Mörlenbach. Seine zuständige Berufsschule liegt im selben Landkreis, in Lampertheim – einfache Fahrtzeit dennoch knapp 90 Minuten. Die Berufsschule in Weinheim (Baden-Württemberg) wäre in 15 Minuten zu erreichen. Das hessische Kultusministerium lehnt den Gestattungsantrag jedoch ab, die Fahrtzeit von 90 Minuten pro Strecke sei zumutbar. Der Auszubildene muss diesen Weg für die gesamte Ausbildungszeit mehrmals jede Woche auf sich nehmen.
Die aktuelle Praxis benachteiligt Ausbildungsbetriebe in Grenzregionen.Dr. Marcel Walter
„Die Gestattungspraxis muss sich unbedingt ändern“, sagt Dr. Walter. „Die aktuelle Praxis benachteiligt Ausbildungsbetriebe in Grenzregionen, sodass im Zweifelsfall ein Betrieb nicht mehr ausbildet beziehungsweise wegen der weiten Wege zur Berufsschule keine Azubis mehr findet.“
Erschwerend kommt dazu, dass der Gestattungsantrag für einen Wechsel der Berufsschule erst dann gestellt werden kann, wenn der Ausbildungsvertrag geschlossen worden ist. „Das bedeutet aber, dass Auszubildende im Vorstellungsgespräch keine verbindliche Zusage darüber erhalten, wo ihre Berufsschule ist. Das verhindert Ausbildungsverhältnisse. Wir kennen Fälle, in denen Auszubildende deshalb nach einigen Wochen wieder abgesprungen sind“, meint Dr. Walter. „Zwar werden in Summe 80 Prozent der Gestattungsanträge am Ende bewilligt, das hilft im Bewerbungsgespräch aber niemandem und zeigt letztlich, wie überflüssig die bürokratische Regelung ist. Unternehmen kämpfen mehr denn je um ihre Fachkräfte von morgen. Längst können sie nicht mehr alle Lehrstellen besetzen. Da muss doch das Ansinnen des Ministeriums sein, Regelungen zu erleichtern.“
Längst können sie nicht mehr alle Lehrstellen besetzen. Da muss doch das Ansinnen des Ministeriums sein, Regelungen zu erleichtern.Dr. Marcel Walter
Doch ist das Gegenteil der Fall: Jeder Gestattungsantrag wird als Einzelfall behandelt und gilt teilweise sogar nur für die Grundstufe, sodass in späteren Lehrjahren der Gestattungsantrag erneut gestellt werden muss.
Die Probleme der jetzigen, hoch bürokratischen, Regelung sind noch weitergehender, denn die Gestattungspraxis führt dazu, dass Betriebe entweder gar nicht mehr ausbilden oder nur noch in Berufen, die regional beschult werden. Ausbildungsberufe, die deshalb neu eingeführt werden, weil sie der Arbeitsmarkt braucht, haben mitunter keine Chance, sich zu etablieren, wenn der Berufsschulstandort zu weit entfernt ist. „Bestimmte Berufe werden so regional aussterben“, konstatiert der IHK-Geschäftsbereichsleiter.
Daher fordert die IHK Darmstadt ein komplettes Umdenken und hat dazu auch einen Brief an den hessischen Kultusminister gesendet.
Im Idealfall würde man die freie Berufsschulwahl ermöglichen.Dr. Marcel Walter
Die Forderungen der IHK: Gestattungsanträge sollten in Grenzregionen deutlich erleichtert werden, denkbar wäre für bestimmte Betriebe eine dauerhafte Gestattung auszustellen – bis auf Widerruf. „Im Idealfall würde man die freie Berufsschulwahl ermöglichen, weil das den Bedürfnissen der ausbildenden Unternehmen und Auszubildenden am besten gerecht wird“, sagt Dr. Walter.
Der Gegenargumentation des Kultusministeriums zur IHK-Forderung nimmt Walter den Wind aus den Segeln: „Dass den Schulen im ländlichen Raum die Azubis entzogen würden, stimmt nicht. Es geht nicht darum, ob der Azubi in Schule A oder Schule B geht, sondern darum, ob er überhaupt eine Ausbildung macht.“ Wenn der Schulstandort nicht attraktiv ist, dann stehen Jugendliche der Ausbildung im Zweifel gar nicht mehr zur Verfügung.
Übrigens konnte 2024 der Beruf der Physiklaboranten nur aufrechterhalten werden, weil Rheinland-Pfalz und Hessen sich auf eine gemeinsame Beschulung in Hessen geeinigt haben. „Von bundeslandübergreifender Zusammenarbeit profitieren alle, weil Jugendlichen, Betrieben und der Schulverwaltung mehr attraktive Schulstandorte zur Verfügung stehen“, ist sich Dr. Walter sicher. „Auszubildende denken nicht Ländergrenzen, sondern in Erreichbarkeit, Fahrtzeit und attraktivem Lernort. Die jetzige Gestattungspraxis, die auf Ländergrenzen pocht, konterkariert das und schadet unseren ausbildungswilligen Betrieben“, wünscht sich Marcel Walter ein schnelles Umschalten.
Wir können zu dem Thema Ansprechpartner*innen aus Ausbildungsbetrieben vermitteln. Kommen Sie gerne auf uns zu.
Kontakt

Patrick Körber
Geschäftsbereichsleiter, Pressesprecher
Bereich: Kommunikation und Marketing